STADE. Mit 42 Jahren startet die ehemalige Handball-Nationalspielerin Melanie Schliecker ihr zweites Comeback. 13 Jahre lang spielte sie für den BSV. Jetzt für den VfL Stade in der Oberliga. Warum eigentlich? Weil sie sich nichts vorschreiben lässt und vom Handball nicht lassen kann.
Melanie Schliecker parkt ihren Citroen C1 vor dem Haus in Soderstorf eine halbe Stunde vor Mitternacht. Sie stellt den Motor ab. Ein kleiner Snack wartet drinnen noch. Dann geht es ins Bett. Schliecker weiß bereits während der Rückfahrt vom Training in Stade, dass sie in der Nacht Schmerzen bekommen wird. Wenn sie auf der Seite liegt, wird der stechende Schmerz in die Schulter ziehen. Wenn das Adrenalin komplett aus dem Körper ist, könnte die Wade wieder zwicken.
Melanie Schliecker ist 42 Jahre alt und die wohl prominenteste Ex-Bundesligaspielerin und Ex-Nationalspielerin aus der Region, die heute noch aktiv ist. Für den Buxtehuder SV traf sie in 291 Bundesligapartien 907 Mal, für Deutschland erzielte sie in 114 Spielen 220 Tore, sie lief einmal bei Olympia auf, einmal bei einer Weltmeisterschaft und bei drei Europameisterschaften.
Zwei Jahrzehnte Handball auf höchstem Niveau und die damit untrennbar verbundene Abnutzung des Körpers lehrten Schliecker Demut. Sie spielt heute beim VfL Stade in der Oberliga. Der VfL führt die Tabelle ungeschlagen an und agiert wie erwartet als Aufstiegsaspirant Nummer eins. Dass der VfL Stade mit der ein oder anderen Verstärkung dritte Liga spielen könnte, steht für Schliecker außer Frage. Ob sie dann noch mithalten kann, werde ihr der eigene Körper noch früh genug mitteilen. „Ich schaue von Woche zu Woche, von Spiel zu Spiel. Ich höre, was mein Körper sagt“, sagt Schliecker.
Schliecker selbst beste Ratgeberin
Schliecker selbst ist dabei ihre beste Ratgeberin. Freilich vertraut sie zudem auf die Ehrlichkeit ihrer Partnerin und ehemaligen BSV-Torhüterin Silke Christiansen und dem ehrlichen Wort ihrer Trainerin Trula Diminidis. Es dürfe nicht peinlich aussehen, wenn sie über das Handballfeld läuft. „Wenn ich zu langsam und zu schlecht werde, sollen sie mir das bitte sagen“, sagt Schliecker. Nein, sie fordert es sogar. Diminidis meint, sie würde Bescheid geben, wenn Schliecker ihren Ruf ruiniert. „Du kannst in dem Alter nicht mehr annähernd das, was du früher konntest“, erklärt die VfL-Trainerin. Der Körper habe die Flexibilität, die Kraft und die Finesse von damals zwar abgespeichert, aber er sei physisch nicht mehr in der Lage dazu, dies alles heute im gleichen Umfang abzurufen.
Mit sechs Jahren das erste Mal einen Handball in der Hand, als Jugendliche deutsche Vizemeisterin mit dem VfL Horneburg, Kreisläuferin und Rechtsaußen beim BSV, deutsche Nationalmannschaft, dritte, zweite und erste Liga in Rosengarten und damit quasi Aufbauarbeit in der direkten Nachbarschaft, jetzt Oberliga beim VfL Stade im zweiten Anlauf: Melanie Schliecker sagt, sie würde in ihrer sportlichen Karriere alles noch einmal genauso machen. Und sie ließe sich von einer Verletzung am Wadenbein nicht beeinflussen.
Im Jahr 2016 feierte Schliecker beim VfL nämlich zwei Comebacks; das erste nach dreijähriger Komplettauszeit im Januar, das zweite vor einigen Tagen nach einem Wadenbeinbruch, den sie sich im Mai zuzog. Das erste Comeback entsprang einer Schnapsidee, das zweite eigentlich einer Trotzreaktion. „Das wäre kein richtiger Abschluss gewesen“, sagt Schliecker. „Nicht das blöde Wadenbein sollte entscheiden, wann Schluss ist.“
Das Wadenbein brach während des Spiels gegen Vechta in der vergangenen Saison. Es war das letzte Spiel der Saison, das entscheidende. Vechta gewann knapp die Partie und damit die Meisterschaft. Stade verpasste den Aufstieg und Schliecker bekam sechs Wochen Schiene und Krücken verordnet. Der Chirurg hat ihr nach der Operation von Sportarten wie Fallschirmspringen und Handball abgeraten. Schliecker lächelte den Doc an. „Du bist verrückt“, soll er noch gesagt haben.
„So etwas Komisches auf Dauer keinen Spaß“
Im August ging Melanie Schliecker wieder laufen. Es lief nicht gut, es fühlte sich komisch an, als ob auch die Bänder angeschlagen gewesen wären. Sie drosselte das Tempo, trainierte in kleineren Schritten. Um die Muskulatur an der Wade wieder aufzubauen, lief sie in ihrem Haus in Soderstorf permanent die Treppen rauf und runter. Sie rollte ihren Fuß über einen Tennisball. Aber weil „so etwas Komisches auf Dauer keinen Spaß“ macht, stieg sie vor gut vier Wochen wieder ins Handballtraining beim VfL ein. Sie sagt, sie habe Respekt gehabt. Aber sie konnte es noch.
Beim Auswärtssieg in Oyten am vergangenen Wochenende steuerte sie drei Treffer bei. Am heutigen Sonnabend kommt der Tabellenletzte SG Findorff nach Stade. Was die Schnelligkeit und die Kondition anginge, sei sie persönlich einigen halb so alten Kontrahentinnen zwar unterlegen. Aber sie könne das Spiel lesen und kompensiere physische Defizite mit ihrer Routine.
Ein wenig Gymnastik außer der Reihe, demnächst vielleicht ein bisschen Volleyball und einmal pro Woche Fußball in Neugraben. Das ist das Sportprogramm der Melanie Schliecker außerhalb des Handballs. Donnerstags fährt sie nach Stade. Die 90 Kilometer über Land schafft sie in etwas mehr als einer Stunde. Der kleine Citroen röhrt bei Tempo 130 auf der Autobahn wie ein Großer. Die WhatsApp-Meldungen aus der VfL-Gruppe auf ihrem Smartphone ploppen unaufhörlich auf. Schliecker hat während der Fahrt kaum einen Blick dafür. Schliecker lässt auf der A 7 den Tag Revue passieren.
Es war ein kurzer Arbeitstag an der Förderschule in Bergen, auf der sie Kindern mit körperlichen und motorischen Nachteilen und Lernschwächen Mathematik, Deutsch, Sport und Kunst beibringt. Sie unterrichtet eine sechste Klasse. Hausaufgaben und Arbeiten hat sie noch vor der Abfahrt kontrolliert. Wenn Melanie Schliecker im Kultusministerium mitreden dürfte, würde sie starre Lehrpläne und das Notensystem wahrscheinlich schnell ändern. Nach 24 Semestern parallel zum Handball und einem Aufbaustudium in der Sonderpädagogik bekam sie den Posten in Bergen, erzählt Schliecker.
Die Fahrt nach Stade entpuppt sich als kurzweilig. Der Citroen gibt alles und Schliecker weiß genau, wie lange die Gelbphasen der Ampeln auf den Landstraßen dauern. In den Blitzer in Rade sei mal eine BSV-Spielerin mit Absicht reingefahren, um zu testen, ob der auch im Dunkeln funktioniert, berichtet Schliecker und lacht. Es sind diese Anekdoten, an die sie sich manchmal erinnert. Heute verfolgt sie die Spiele des BSV kaum noch. „Ich kenne ja auch keine Spielerin mehr“, sagt sie.
Kurz vor der A 26-Auffahrt in Horneburg steigt Melanie Schlieckers Schwester Tina dazu. Wie jeden Donnerstag. Diesmal ist der bevorstehende Geburtstag des Vaters Thema. Die Schliecker-Schwestern sind beim VfL Stade eines von vier aktiven Geschwisterpaaren. Auf der Rechtsaußenposition sind die Schwestern Konkurrentinnen. Häufig bringt VfL-Trainerin Trula Diminidis Melanie im rechten Rückraum.
Der Donnerstag gilt beim VfL als der intensivste Trainingstag der Woche. Bei ihrem ersten Comeback in der vergangenen Saison hielt Schliecker nicht bis zum Ende durch. Heute wird sie auf 88 Minuten kommen. Schliecker bricht das Training zwei Minuten vor Schluss ab und schaut ihren Kolleginnen beim Siebenmeterwerfen zu. Eine wirft, die anderen müssen zehn Liegestütze machen, wenn sie nicht trifft und dabei laut „Danke“ sagen. Das schafft wenigstens ein wenig Druck.
Das Training beginnt mit einem Fußballspiel. Schliecker spielt bei der Partie Alt gegen Jung bei Alt. Ganz entspannt agiert sie dabei als letzte Absicherung vor dem eigenen Tor. Eine gefühlvolle Vorlage mit dem linken Fuß verwertet Kirsten Willmann per Kopf. Der VfL geht danach Spielzüge durch, die Spielerinnen werfen viel aufs Tor, üben das Zweikampfverhalten. Beibringen kann Trula Diminidis Schliecker längst nichts mehr.
Erschöpft verlässt Melanie Schliecker die Sporthalle des Vincent-Lübeck-Gymnasiums. Sie ist die letzte Spielerin, die vom Duschen kommt. Die Haare sind noch feucht, als sie sich ins Auto setzt. Sie bringt ihre Schwester nach Hause. Zum Abschied gibt es eine Umarmung. Dann rauscht Schliecker in die Nacht.
Nächstes Spiel
Am heutigen Sonnabend um 18 Uhr (VLG) kommt es in der Handball-Oberliga zum Duell zweier Kontrahenten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Mit 8:0 Punkten, 165 geworfenen Toren und damit dem besten Angriff der Liga, steht der VfL Stade auf Platz eins der Tabelle. Gegner ist die SG Findorff: 0:8 Punkte, 97 geworfene Tore, der schwächste Angriff der Liga und aktuell Tabellenletzter. „Die Rollenverteilung ist völlig klar“, sagt Trainerin Trula Diminidis. „Ich erwarte von meiner Mannschaft, dass sie im Entscheidungsverhalten einen Schritt nach vorne macht und das Spiel dominiert“, so Diminidis weiter. Unter den Zuschauern wird am Sonnabend ein Waren-Gutschein im Wert von 150 Euro verlost.
Zur Person
Melanie Schliecker (42) wurde in Stade geboren. Mit sechs Jahren begann sie mit dem Handballspielen. Bis 1993 lief sie für den VfL Horneburg auf und gewann mit der A-Jugendmannschaft die deutsche Vizemeisterschaft. Schliecker wechselte 1993 zum Bundesligisten Buxtehuder SV und warf für den BSV bis 2006 in 291 Spielen 907 Tore. Zwischen 2006 und 2013 spielte Schliecker in Rosengarten und stieg mit der SGH von der dritten bis in die erste Liga auf. Seit 2015 steht sie im Kader des VfL Stade in der Oberliga, konnte aufgrund eines Wadenbeinbruchs aber nur wenige Spiele bestreiten. Für die deutsche Handball-Nationalmannschaft erzielte Schliecker in 114 Partien 220 Tore, sie war bei einem olympischen Turnier, einer WM und drei EM dabei. Melanie Schliecker arbeitet heute als Lehrerin in einer Förderschule in Bergen und lebt in Soderstorf.
Quelle: Tageblatt
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