Die Fälle sind selten, aber es gibt sie: Der plötzliche Herztod von Leistungssportlern. Der Aufsteiger in die Dritte Handball-Liga, der VfL Stade, stellt sich professioneller auf und hat jede Spielerin einer medizinischen Untersuchung unterzogen.
Julia Wichern erlaubte dem TAGEBLATT, dabei zu sein.
Die Atemmaske hinterlässt nach zwölf Minuten auf dem Ergometer einen Abdruck rund um den Mund von Julia Wichern. Vom Oberkörper fallen die Sensoren ab, die das EKG mit Informationen versorgten. Sie darf die Nasenklammer wieder abnehmen. Der Kopf der Handballerin ist ein wenig gerötet, aber schwitzen tut sie kaum. Sie nimmt einen großes Schluck aus der Wasserflasche. Wenn die Oberschenkel nicht so gebrannt hätten, wäre Julia Wichern noch weiter auf der Stelle gefahren.
Bei der Spiroergometrie hat die Medizinische Fachangestellte Jessica Laut in der Herz-Lungen-Praxis des Stader Sportmediziners und Kardiologen Dr. Stephan Brune getestet, wie viel Sauerstoff Julia Wichern unter Belastung aufnehmen kann, wo sich bei der Handballerin die aerobe und anaerobe Zone befindet, also, wann die Muskeln sauer werden, sie überwachte die Lungenfunktion, den Blutdruck, die Herzfrequenz und zapfte ihr im rechten Ohr mehrfach Blut ab, um später den Laktatwert zu ermitteln.
Der VfL Stade testet seine Leistungssportlerinnen auf Herz und Nieren
Julia Wichern ist an diesem Tag die erste Spielerin des Drittligaaufsteigers VfL Stade, die die Prozedur über sich ergehen lässt. Der Verein testet seine Leistungssportlerinnen auf Herz und Nieren. Vornehmlich gilt die Untersuchung als Prävention gegen den plötzlichen Herztod und als Leistungsdiagnostik, und sie dient später der Trainingssteuerung. Der VfL professionalisiert seine Strukturen. Die Spiroergometrie und der Ultraschall danach sind nur zwei Bausteine. „Mir geht es besser, wenn ich weiß, wie hart ich die Mädels im Training rannehmen darf“, sagt Trainerin Trula Diminidis. Bislang sei sie bei den Belastungen mehr nach Gefühl gegangen. Jetzt hat sie bald Daten und Fakten. Diminidis erstellt nach der Auswertung gemeinsam mit Stephan Brune individuelle Trainingspläne für jede einzelne Spielerin.
Jessica Laut zieht die Maske über Julia Wicherns Gesicht. Sie soll tief einatmen und die Luft wieder ausstoßen. Die Maske sitzt bombenfest. „Wenn ein wenig Panik ausbricht, ist das gut“, sagt Jessica Laut. Julia Wicherns Lächeln ist unter der Maske allenfalls zu erahnen. Sprechen darf sie nicht während der Untersuchung. Das würde die Ergebnisse verfälschen. Bevor Julia Wichern in die Pedale tritt, speisen die Sensoren den angeschlossenen Computer mit einem Ruhe-EKG. Jessica Laut holt sich den ersten Blutstropfen. Danach fährt die Handballerin einen imaginären Berg hinauf, mit 60 bis 65 Umdrehungen pro Minute. „Es wird irgendwann schwer werden“, sagt Jessica Laut.
Nach sechseinhalb Minuten tritt Julia Wichern 130 Watt, ihr Herz schlägt 136 Mal pro Minute. Der Blutdruck steigt auf 160 zu 90. Anderthalb Minuten später deutet sie mit dem Finger auf eine Tafel, weil sie nicht sprechen darf. Auf der Tafel stehen verschiedene Schwierigkeitsgrade. Julia Wichern zeigt auf die Stelle „extrem schwer“. Bei 160 Watt und 146 Herzschlägen kämpft die Handballerin. Die Oberschenkel brennen. Sie hebt nach neun Minuten und zehn Sekunden die Hand und bricht die Untersuchung ab. Jessica Laut nimmt den Widerstand aus dem Ergometer. Julia Wichern tritt drei Minuten frei, rollt quasi aus. Bereits nach kurzer Zeit regeneriert ihr Körper. Blutdruck und Herzfrequenz haben die Ausgangswerte erreicht. Sie steigt vom Rad, als sei nichts gewesen. „Ich fahre sonst nicht so viel Rad. Höchstens mal drei Kilometer ins nächste Dorf“, sagt Julia Wichern.
Handball liegt Julia Wichern naturgemäß mehr. Sie spielte einst für den Buxtehuder SV in der Bundesliga. Damals hieß sie noch Lupke. Zum VfL Stade wechselte sie im vergangenen Sommer. Die begnadete Spielmacherin und Torjägerin galt als Königstransfer und war maßgeblich am Aufstieg des VfL in die Dritte Liga Nord beteiligt.
Vor einigen Tagen startete der VfL Stade in die erste Vorbereitungsphase für die kommende Saison. Die Spielerinnen arbeiten an ihrer Technik und absolvieren athletische und konditionelle Tests. Die zweite Phase beginnt am 1. August. Zwischendurch gibt Trula Diminidis ihren Spielerinnen trainingsfrei, aber nicht sportfrei. Im Urlaub stehen Beachvolleyball, Skaten, Radfahren oder Schwimmen auf dem Programm. Kurz vor Saisonstart im September strampeln die Spielerinnen vielleicht ein zweites Mal auf dem Ergometer, um Vergleichswerte zu schaffen.
Der Vormittag in der Praxis von Stephan Brune endet mit einer Ultraschall-Untersuchung. Brune findet nichts Auffälliges am Herzen der 29-Jährigen. Sie habe Reserven in Sachen Belastbarkeit, sagt er zu Wichern. Die Handballerin zuckt mit den Schultern. „Hab zuletzt wenig gemacht“, sagt sie. In den nächsten Wochen wird sie sich wieder verausgaben. Mit gutem Gefühl.
Das Herz bleibt plötzlich stehen

  • Der Tod von Marc-Vivien Foé erschütterte die Fußballwelt im Juni 2003. Der kamerunische Fußballer war beim Confederations Cup in Frankreich ohne Fremdeinwirkung auf dem Spielfeld zusammengebrochen. Die Ärzte kämpften eine Stunde um sein Leben, im Krankenhaus konnte dann nur noch der Tod festgestellt werden. Marc-Vivien Foé wurde 28 Jahre alt.
  • Im Alter von 25 Jahren starb der Fußballer Maurizio Greco vom TuS Güldenstern Stade am 15. November 2009 an plötzlichem Herzversagen. Greco war während eines Oberligaspiels der Stader gegen Lupo Martini Wolfsburg auf dem Platz auf der Camper Höhe zusammengebrochen. Alle Reanimierungsversuche blieben erfolglos.
  • Im Dezember 2015 brach die 19-jährige Handballerin Helen Andersson beim Training des Drittligisten SV Henstedt-Ulzburg zusammen und blieb bewusstlos liegen. Zum Lebensretter wurde Julian Lauenroth, damaliger Zweitligaspieler des Vereins, Medizinstudent und Rettungsassistent. Die Schwedin hatte einen angeborenen Herzfehler.
  • Anfang Juni 2017 fiel Cheik Tioté beim Training seines Clubs Beijing Enterprises in Ohnmacht und starb eine Stunde später an den Folgen eines Herzinfarkts. Alle medizinischen Maßnahmen blieben erfolglos. Der 30-jährige Fußballer von der Elfenbeinküste war im Februar von Newcastle United zum chinesischen Zweitligisten nach Peking gewechselt. Tioté nahm an zwei Weltmeisterschaften teil.

 

Marathonläufer sind Dauergäste in seiner Praxis


Dr. Stephan Brune fordert als Mitglied der Deutschen Gesellschaft der Sportmediziner seit Jahren, dass die Untersuchungen für Leistungssportler Pflicht werden.
Mit der Spiroergometrie und dem anschließenden Ultraschall will der VfL Stade bei seinen Handballerinnen Herz- und Lungenkrankheiten ausschließen, die leistungsbegrenzenden Werte diagnostizieren und anschließend das Training und dessen Intensität individuell steuern.
Die Untersuchung gibt Aufschluss über die maximale Sauerstoffaufnahme des Athleten und klärt, was der Körper maximal leisten kann. Der Laktattest zeigt, wann die Muskeln beginnen zu übersäuern. Die Überprüfung der Lungenfunktion ergibt beispielsweise Hinweise auf latentes Asthma. Der anschließende Ultraschall klärt mögliche Herzerkrankungen.
Spiroergometrie ist noch nicht endültig im Mannschaftssport angekommen
Viele Marathonläufer, Triathleten und Schwimmer aus der Region gehören zum Klientel des Sportmediziners und Kardiologen Dr. Stephan Brune. Im Mannschaftssport ist die Spiroergometrie noch nicht endgültig angekommen. Wenige Fußballmannschaften der Region lassen sich untersuchen. Regelmäßig sitzen die Neuzugänge des Handball-Drittligisten VfL Fredenbeck in Brunes Sprechzimmer. Brune ist Mannschaftsarzt des VfL. Die Untersuchung kostet Geld. Das schreckt offenbar einige Vereine ab. Einige Krankenkassen bezahlen die Prävention.
Der Handball-Bundesligist Buxtehuder SV untersucht seine Spielerinnen jedes Jahr. Im vergangenen Jahr drängte Manager Peter Prior darauf, alle Spielerinnen bis zur B-Jugend durchzuchecken, um Herz-Kreislauferkrankungen auszuschließen. Spiroergometrie ist in Buxtehude kein Fremdwort. Der BSV hat das Athletiktraining individualisiert. Sportwissenschaftler kümmern sich zweimal pro Woche um die Handballerinnen. Präventiv schaut der Trainer- und Betreuerstab beim BSV zudem auf die orthopädischen Schwachpunkte der Spielerinnen. Nur eine bewegliche Wirbelsäule sei auch eine Grundlage für eine gute Technik, sagt BSV-Trainer Dirk Leun. Die Gewissheit, gesunde Spielerinnen vor sich zu haben, gibt Leun ein beruhigendes Gefühl.
Die Untersuchung von Leistungssportlern ist beispielsweise in Italien Pflicht. Die Deutsche Gesellschaft für Sportmediziner fordere seit Jahrzehnten, den Check-up auch in Deutschland gesetzlich zu verankern, um plötzliche Todesfälle zu vermeiden, sagt Stephan Brune.
Quelle: Tageblatt – Daniel Berlin

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